XIV. Internationaler Kongress für Philosophie
Notizen
von Gerd
Hergen Lübben :
(1)
In F.A.Z., 4.
September 1968:
»
Die
Vernunft und die Wirklichkeit «
(...) Während sich die Unterkünfte in der Wiener Stadthalle
und aut dem Gartenbaugelände im Donaupark mit Flüchtlingen aus
der CSSR füllen und Dutzende von Tschechen und Slowaken auch am Sonntag
vor der Schweizer Botschaft Schlange standen um ein Visum, versammelten
sich in den Gebäuden der Universität mehr als 3000 Philosophen
aus 65 Staaten zu ihrem Kongress: „Denker aller Länder — Gespräch
und Begegnung“. Der am Montagvormittag mit einem feierlichen Festakt in
der Wiener Staatsoper eröffnete 14. Internationale Kongress für
Philosophie — nach dem Heidelberger Konrress vom 1. bis 5. September 1908
der zweite in einem deutschsprachigen Land — ist der größte
aller bisherigen dieser Weltkongresse. (...)
Nach den Begrüßungsreden (...) unternahm der Heidelberger
Philosoph Gadarner in seinem Festvortrag, der dem Thema „Die Macht der
Vernunft“ gewidmet war, den Versuch, das allem Philosophieren Gemeinsame
in Worte zu fassen. Vernunft, so führt Gadamer aus, habe es
mit dem Allgemeinen zu tun. Daher sei eine Übereinstimmung auch am
ehesten in jenen Wissenschaften erreichbar, die sich mit reinen Vernunftgegenständen
beschäftigen. Die Wissenschaft, die unser Zeitalter in einem noch
nie dagewesenen Masse In die Praxis umsetzt, erfreue sich allgemeiner Anerkennung.
Dirse Identifikation der Vernunft mit dem Allgemeinen sei auch das Problem
unseres sozialen Lebens und das Problem der Verständigung unter den
Völkern. All dies könne scheinbar nur auf die Macht der Vernunft
verweisen. — In der „Rhetorik der Massenmedien“, einer Art Neosophismus,
walte die Schablone des Selbstverständlichen, die Macht des Eingeredeten.
Enthält nicht die Forderung der Macht für die Vernunft einen
Widerspruch in sich selbst? Die Ohnmacht der Vernunft spricht nach Gadamers
Auffassung nicht allein aus allen Erfahrungen der Menschheit. Das eigentliche
Wesen der Vernunft liege in der unaufhörlichen Aufforderung, das Für-wahr-Gehaltene
erneut in Frage zu stellen und sich an ihm kritisch zu bestätigen.
Alles Selbstverständliche, alle Vorurteile müssen durch Vernunft
wieder in Frage gestellt werden. Was die Teilnehmer des Philosophenkongresses
in Wien, „dieser alten Stadt des Ausgleichs“, suchen, kann nicht in der
Schaffung eines sogenannten gemeinsamen Nenners bestehen. Den Philosophen
als einen „Experten der Vernunft“ zu betrachten, heisst eine Spezialisierung
seiner Arbeit vornehmen. (Einengung, Angstzustände.) Kein Philosoph
sei imstande, der Vernunft zur Macht zu verhelfen. „Sieg der Vernunft“
— welch ein Paradoxon! Im Wesen der Vernunft liegt es, dass der Mensch
nicht auf einem einzigen Wege dahin gelangen kann. Wenn überhaupt.
Schon im Vorabend des Kongressbeginns hat Gadamer in einer vom Kongresspräsidenten
L.
Gabriel geleiteten und vom Osterreichischen Fernsehen ausgestrahlten
Podiumsdiskussion — Thema: „Die Philosophie im Zeitalter der Wissenschaft“
— betont, dass die Vernunft wohl in der Hauptsache zu einem gut sei, nämlich
dazu, die eigenen Irrtümer zu erkennen. Das alte „Erkenne dich selbst!“
Für die Denkarbeit sei das Vertrauen des Philosophen in sein Selbsterkennungsvermögen
von fundamentaler Bedeutung. — Unmittelbar vor dem Zustandekommen des in
vielen Wiener Cafés wissbegierig von Melange trinkenden Gästen
und „einfachen Menschen“ verfolgte Schaugesprächs war es hinter den
Kulissen zu einem Wortgefecht zwischen dem russischen Philosophen T. I.
Oiserman und seinem (gleichfalls zur Diskussion ein geladenen) tschechoslowakischen
Kollegen gekommen, als dieser mit geballter Faust sagte, er könne
nicht mit einem Sowjetmarxisten an einem Tisch sitzen, wenn zugleich sowjetische
Okkupanten seine Landsleute entrechteten und entwürdigten. Oiserman
darauf sophistisch: „Sie sagen, Sie wollen nicht mit mir sprechen, und
dabei sprechen Sie soeben mit mir.“ — Desungeachtet fand das Podiumgespräch
statt. Ohne den Tschechen. (...)
Die erste Sitzung des Marx-Gegenwart-Kolloquiums, in der Oiserman („Hegel,
Marx und die Gegenwart“) das Hauptreferat hielt, fand unter dem Vorsitz
von K. Löwith statt. Oiserman sprach die Überzeugung aus, dass
die Philosophen, Soziologen und Politiker der Gegenwart genötigt seinen,
auf die von Marx und Lenin aufgeworfenen Fragen zu antworten. Diesen Fragen
könne kein Mensch mehr entgehen: sie entstünden im Leben selbst,
sie würden durch das Leben selbst aufgeworfen. Unter den anschließenden
Wortmeldungen lösten die Bemerkungen eines Mannes aus Biafra, E. Ekesiobi,
spontane Zustimmung aus. „Wir in Afrika“, sagte er, „sind immer wieder
irritiert durch das chamäleontische Wesen des Marxismus. Gibt es nicht
nur einen einzigen Marxismus? Welcher wäre das etwa? Derjenige Lenins,
jener Maos? Oder der der Tschechen? Lasst uns die Dogmen vergessen, lasst
und analysieren!“
Das Gros der Kongressteilnehmer erhofft sich einen ungestörten
Verlauf der Gespräche und Begegnungen. Die Gefahr, dass das Philosophenforum
zu einem „Realitätenbüro“ ohne reelle Kreditgewähr umfunktioniert
wird, scheint nicht groß. (...) Möge der österreichische
Bundespräsident recht haben, wenn er bei der Eröffnung die Philosophie
als das grundlegende Denken bezeichnete, als die „Aufgabe, der Menschheit
einen neuen Weg zu weisen“. Einen Weg aus Angst und Wirrsal. Einen Weg,
auf dem beispielsweise die Schulanfänger, die Montag früh im
Stephansdom ihre Initiationsmesse besuchten, ihre ersten Schrite zu selbständigem
Denken tun können. Ihnen wurde vom Prädikanten gesagt: „Was Hänschen
nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“
Philosophen lernen nie aus.
(2)
In F.A.Z., 11.
September
1968:
»
Konstantinow
polemisiert «
(...) Die im Rahmen des 14. Internationalen Kongresses für Philosophie
abgehaltene Generalversammlung des „Institut International de Philosophie“
hat ein von dessen Präsidenten R. Klibansky (Kanada) unterzeichnetes
Kommuniqué herausgegeben, worin es heißt: „Die Generalversammlung
bringt aufs nachdrücklichste in Erinnerung, dass die Freiheit des
Denkens die unabdingbare Voraussetzung der Selbstbestimmung des Menschen
ist, die in der Philosophie ihren begrifflichen Ausdruck findet. Sie richtet
sieh in alle nationalen Institutionen und internalionalen Organisalionen,
welche die Möglichkeit haben, denen zu Hilfe zu kommen, die dieser
Freiheit beraubt und nicht in der Lage sind, ihre Tätigkeit als Lehrer
oder Forscher auszuüben.“ Das Institut will im Einklang mit seinen
Zielen alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen“ ergreifen, „um diese
Hilfsaktion in die Wege zu leiten“.
Unabhängig von dieser Erklärung richtete eine Gruppe von
Philosophen — darunter Y. Bar-Hillel, E. Bloch. H. G. Gadamer, J. Hyppolite,
K. Löwith, K. Popper, G. H. v. Wright — folgenden Appell an die Öffentlichkeit:
„Teilnehmer aus zahlreichen Ländern am 14. Internationalen Kongress
für Philosophie verfolgen mit sorgenvoller Anteilnahme die Anstrengungen
ihrer Kollegen aus der CSSR, um in ihrem Lande die Bedingungen der freien
Forschung und der freien Meinungsäußerung zu sichern, ohne die
es keine Philosophie gibt. Die Sache der Intellektuellen in der Tschechoslowakei
ist die Sache aller, die in der ganzen Welt die Wahrheit suchen. Die Unterzeichneten
hoffen, dass die Zeiten vergangen sind, in denen der Dienst an der Wahrheit
Gefängnis, Deportation oder Exil zur Folge hatte.“
Auf einer Pressekonferenz der Kongressleitung kam die Politisierung
einiger Kongressveranstaltungen zur Sprache. Dabei warnte der sowjetische
Ideologe F. W. Konstantinow, der Leiter des Autorenkollektivs des im Ostblock
obligaten Lehrbuchs „Grundlagen des Marxismus“, die Teilnehmer des Kongresses
davor, zu versuchen, Richter des Marxismus und des Internationalismus zu
sein: Die „Fahne
des Internationalismus“ sei „heilig“. Er verband diese Äußerung
mit einer heftigen Kritik an der österreichischen Presse. die nicht
genügend objektiv über den Kongrress berichtet habe. Es sei eine
nicht vom Programm vorgesehene Politisierung der wissenschaftlichen Arbeit
angestrebt worden. Auf die Einwendung westlicher Philosophen, dass zur
Diskussion der marxistischen Theorie (die im übrigen erstmals auf
ein4em Internationalen Kongress für Philosophie stattgefunden habe)
notwendig die Erörterung der politischen Praxis gehöre und dass
sich gezeigt habe, wie uneinheitlich das marxistische System sei (ganz
im Widerspruch zur sowjetischen Darstellung), und auf die Frage, wie die
Sowjetphilosophie die Anwendung von Gewalt rechtfertigen könne, behauptete
Konstantinow, der Marxismus sei durchaus nicht uneinheitlich. Bei so vielen
Ländern, die unter dieser Ideologic zusammengeschossen seien, müsse
mit Unterschieden gerechnet werden. Dann sagte der Sowjetideologe, in der
CSSR gehe es keinesfalls um den Marxismus. Zwischen dem Prager und dem
Moskauer Kommunismus gebe es keine Streitpunkte. Die Intervention der Sowjetunion
in der Tschechoslowakei diene vielmehr allein dem Frieden in Europa: „Wenn
Ihnen das heute nicht klar ist, dann werden Sie es morgen merken.“ — Mit
dem Ruf, dass die rote Fahne siegen werde, verließ Konstantinow,
der hier noch — als einer der „bedeutenden Denker der Gegenwart“ — einen
Vortrag über „Marxismus und Wissenschaft“ halten will, die Konferenz.
(3)
In F.A.Z., 17.
September 1968:
»
Marx
und seine Marxisten «
(...) Standortfeststellungen und Untersuchungen von Ausgangspunkten
bildeten den meistberedeten Gegenstand des Wiener Philosophenkongresses,
den ein Plakat mit dem Motto bedacht hat: „Denker aller Länder“ —
wer assoziierte nach diesem Worttrio nicht den revolutionären Imperativ
„vereinigt euch!“ — „Begegnung und Gespräch“. (...) Kanzler Klaus
sprach anlässlich der EröfInung von der „geistesgeschichtlichen
Relevanz“ der tschechoslowakischen Tragödie. Flugblattappelle verteilten
die „Studentengruppe Wien des Österreichischen Akademikerbundes“ und
der „Verband Sozialistischer Studenten“ an die versammelten Denker. Lediglich
die wie zahlreiche andere internationale Institutionen im Rahmen des Kongresses
tagende Generalversammlung des „Institut International de Philosophie“
unter seinem Präsidenten R. Klibansky sowie eine unabhängige
Gruppe von Philosophen — darunter E. Bloch, H. G. Gadamer, K. Löwith
— wandten sich in Protesterklärungen an die Öffentlichkeit. Dabei
vermied es das Kommuniqué des Instituts, die CSSR eigens zu nennen,
da es um alle gehe, die der „Freiheit des Denkens“ beraubt und „nicht in
der Lage sind, ihre Tätigkeit als Lehrer oder Forscher auszuüben“,
einschließlich „jene in Griechenland“.
Schon vor Beginn des Kongresses hatte die philosophische Fakultät
der Prager Universität an den österreichischen Kongresspräsidenten
L. Gabriel ein die Okkupation der CSSR durch fünf Warschauer-Pakt-Staaten
verurteilendes Protestschreiben gerichtet, das dieser aber nicht veröffentlichte.
(Ungezählte eingegangene Resoltilionen wanderten in den Papierkorb.
Gabriel: „Resolutionen sind keine Diskussion.“) Einerseits sollte von vornherein
eine Politisierung des „rein wissenschaftlich“ gedachten Veranstaltungsablaufs
unterbunden werden. Andererseits lag die Nichtveröffentlichung in
diesem Falle gerade auch in Interessc der tschechoslowakischen Teilnehmer,
die wohl sämtlich von der Sorge um ihr Ergehen nach der Heimreise
erfüllt sind.
Im Kolloquium über die „Natur des Menschen und das Problem des
Friedens“ stellte das Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR,
P. Fedossejew, in seinem Vortrag über „Humanismus und Frieden“ die
rhetorische Frage, wo mehr Demokratie sei, im Sozialismus oder im Kapitalismus,
unmittelbar darauf gab der tschechoslowakische Gelehrte M. Prucha seiner
Genugtuung darüber Ausdruck, dass Fedossejew die Veröffentlichung
der Vorträge auch der Tschechoslowaken befürwortet habe. Um die
Möglichkeit eines tschechoslowakisch-sowjetischen Gesprächs nicht
zu zerstören, verzichtete er auf weitere Bemerkungen. (...)
Statt genuinsicherer Gedankenführungen herrschte in den mehr aktuell
programmierten Sessionen ein nervöses Showdown modisch verputzter
Gerlankenfassaden vor. Statt eines veritablen Symphilosophein überwog
eine überspannte Dialogologie, z. B. in dem mit dem „Problem des Friedens“
befassten Kolloquium, das als „marxistisch-christlicher Dialog“ von
der „Amerikanischen philosophischen Gesellschaft zum Studium des dialektischen
Materialismus“konzipiert war. Ein Mann von der Paulusgesellschaft sah beispielsweise
eine sinnvolle Gemeinsamkeit des Christentums und des Marxismus darin,
dass die Intentionen ihrer beider Schöpfer sich zu sterilen Systemen
verhärtet hätten, die es zu überwinden gelte. Es gebe nur
die eine Alternative: Mensch zu sein oder aber das Menschsein der totalen
Vernichtung preiszugeben.
In der Sitzung über die „östliche Philosophie“ kamen wohl
Probleme des Hinduismus, des Buddhismus und des Konfuzianismus zur Sprache,
nicht aber Fragen der neuesten geistesgeschichtlichen Entwicklung in Rotchina.
— Im Marx-Gegenwart-Kolloquium lenkte der Sowjetmarxist T. I. Oiserman
die Geister auf das den zeitgenössischen Marxismus wie kein anderes
faszinierende Thema „Marxismus und Humanismus“. Die gleichsam neu entdeckte
Personalität des menschlichen Individuums paralysiert den dogmatischen
Marxismus in dem Maße, wie er einer Analyse der Bedeutung, die dem
Einzelmenschen in bezug auf Gesellschaft und Masse zukommt, vernachlässigt.
Dabei ist es höchst interessant, den Ausbildungsprozess der Marxschen
Lehre weniger durch das hegel-feuerbachsche Systembewusstsein vorbereitet
zu sehen, als im Marxismus vielmehr die Nachwirkung der fichteschen Idve
vom „Willen in Aktion“, ja mittelbar auch des kantischen Gedankenmassivs
zu beobachten (Kamenka, Cornu).
Der Widerspruch des humanistischen Anspruchs und der deterministischen
Grundtendenz des Marxismus, auf den G. Calogero (Italien) hinwies, musste
die Frage provozieren. wie denn der Determinismus der marxistischen Lehre
mit der These, der Mensch selbst mache die Geschichte, in Einklang zu bringen
sei. Während 0iserman diese Frage aus der Dialektik des Marxschen
Denkens zu beantworten versuchte, machte die in der Bundesrepublik lebende
Exilrussin V. Piroschkow diesbezüglich kritische Bemerkungcn zum Marxismus.
Ist der Endpunkt der historischen Entwicklung, das Lichtreich des „Kommunismus“,
determiniert und der Weg dorthin indeterminiert — so fragte sie —, oder
ist in dieser extremen Teleologie ein Faktor zu sehen, der das Element
der persönlichen Freiheit aus dem Prozess der Historie notwendig ausschaltet?
— Nach der Ansicht von S. Stojanovic (Belgrad) haben die Marxisten, seit
sie zur Macht gelangt und etabliert seien, die mannigfachen Verzerrungen
der marxschen Gedanken selbst verschuldet. Der Jugoslawe bezweifelte rundweg,
dass der Komunismus der Endpunkt der menschlichen Entwicklung sein könne.
Einen wichtigen Beitrag zum marxismusimmanenten Determinismusproblem
hätte man sich von dem im Kongressteilnehmerverzeichnis noch genanntem
Polen L. Kolakowski erwartet. Er hat in der marxistischen Literatur über
den historischen Determinismus Tendenzen aufgedeckt, die den Lösungsversuchen
des Trientiner Konzils ähneln; er bezeichnete den unheilbaren Antagonismus
zwischen der Philosophie, die das Absolute verewigt, und jener, die die
anerkannten Absoluta in Frage stellt, als einen „Antagonismus der Priester
und Narren“, wobei die „Philosophie des Narren“ durch eine negative Wachsamkeit
gegenüber dem Absoluten gekennzeichnet ist, durch Intelligenz ohne
Verzweiflung und durch Hoffnung ohne Verblendung. Kolakowski, unlängst
aus der Staatspartei ausgeschlossen, wurde die Ausreise Wiener Kongress
verweigert (nach Kanada freilich wird er dürfen, wie zu vernehmen
ist). — Der Warschauer Philosoph A. Schaff, der noch im Frühjahr
einen ideologischen Zweifrontenkrieg mit der Parteiorthodoxie und dem Revisionismus
auszutragen hatte (selbst Polen wunderten sich, dass ihm die Ausreise
gestattet wurde), wusste bei der Fortführung dcs Marx-Gegenwart-Kolloquiums,
dessen Vorsitz er nach K. Löwith übernommen hatte, wegen des
Einmarsches in die CSSR protestierende Studenten dadurch zu beschwichtigen,
dass er auf die Problematik der Einheit von Theorie und Praxis verwies.
Die Protestaktion entspreche in dem Maße nicht der Marxschen Auffassung
von Praxis, wie sie praktisch wirkungslos bleiben werde. Wenn „sozialistische“
Studenten eine Diskussion über Marx störten, komme das einer
„internationalen Blamage“ gleich. (...)
In der Plenarsitzung „Philosophie und Ideologie“ kam es zu neuerlichen
Versuchen, den festen Diskussionsverlauf zu stören. Der Vorsitzende
des Plenums und Vizepräsident des Kongresskomitees, E. Heintel (Österreich),
geriet wegen seiner wenig diplomatischen, lautstarken Gesprächsleitung
in den Mittelpunkt vehementer Kritik. — Der Präsident des Kongresses,
L. Gabriel, der während der Auseinandersetzungen wiederholt zu einer
sachlichen, „philosophischen“ Diskussion aufgerufen hatte, griff in die
Sitzung ein mit der Aufforderung an die sowjetischen und die tschechoslowakischen
Kongressteilnehmer, sich zu einer philosophischen Erörterung ihrer
ideologischen Differenzen bereitzufinden. Darauf ließ P. Fedossejew
die Möglichkeit eines sowjetischen Kongressboykotts durchblicken:
Die kommenden fünf Jahre (bis zum nächsten Weltkongress für
Philosophie) würden zeigen, wer sich als wahrer Philosoph gehalten
habe und wer hier versuche, aus philosophischer Münze politisches
Kapital zu schlagen. — Der tumultuarische Ausgang der Sitzung stand ganz
im Gegensalz zu ihrem friedfertigen Anfang. Pater G. Wetter (Österreich)
hatte auf die „logische Entwicklung“ im Marxismus hingewiesen, worin ein
Ansatzpunkt für die Theologie zu finden sei, den Marxismus zu verstehen.
Eben gegen dieses dialogologische „Verstandenwerden“ durch Nichtmarxisten
jedoch wehrten sich die Marxisten entschieden. Nur Marxisten vermöchten
dem Marxismus gerecht zu werden, behauptete V. M. Mshvenieradse (UdSSR);
die Tübinger „Marxismus-Studien“ seien durch und durch „antimarxistisch“.
(4)
In F.A.Z., 18.
September 1968:
»
Denen
das Denken schwerer fällt «
Die sagenhafte Vieldeutigkeit der Sprache wurde in der Plenarsitzung
„Sprache: Sernantik und Hermeneutik“ behandelt. Sprache reißt jeweils
einen Teil des Bewusstseins auf und verdeckt damit etwaige andere Möglichkeiten
des bewussten Erlebens. Auch in der Sprachphilosophie, so glaubt H. G.
Gadamer (Heidelberg), sei mit alten Absolutheitsansprüchen aufzuräumen.
Eine bewusste Rcflexion hat auch sich selbst zum Gegenstand und kann ihre
Grenzen einsehen. — Demgegenüber sieht der Kiewer Philosoph P. Kopnin
in einer künstlich erschaffenen, formalisierten Sprache, auf die u.
a. die Kybernetik aufbaut, das ideale Modell für den Aufbau des menschlichen
Wissens. (...) Eines der wirklichen Ergebnisse des Wiener Philosophiekongresses
darf die Einsicht genannt werden, dass aueh der Computer für echte
philosophische Forschung nutzbar gemacht, werden kann. Das zeigte die mit
Hilfe von Computern vorgenommene Untersuchung der Pseudonyme Kierkegaards
von A. McKinnon (Kanada). — Das dokumentierte insbesondere die Datenverarbeitungsanlage
„Golem“, zu deren Premiere eigens Philosophen aus aller Welt vom Wiener
Kongress nach München geholt wurden. Mittels diesers informationslogischen
Automaten soll die gesamte nationale philosophische Zeitschriftenliteratur
erfasst werden. Auf die hier deutlich gewordene, keineswegs mehr utopische
Möglichkeit eines Dokumentationszentrums, von dem aus in Sekundenschnelle
jegliche beliebige bibliographische Information abrufbar ist, wurde auch
innerhalb des Arbeitskreises „Kant“ hingewiesen. (...) Die „Telefonbücher“,
d.h. die Manuskripte
des Stellenindex zu Kants Schriften, sowie die ersten Manuskripte des
Leibnizindex von G. Martin lagen in einem separaten Raum des Philosophischen
Instituts der Wiener Universität aus. (...) „Denker —: Das sind die
Menschen, denen das Denken schwerer fällt als anderen“, sagte E. Bloch
ironisch in seinem Vortrag über die „Erkennbarkeit der Welt“, den
er in seiner Eigenschaft als einer der „bedeutendsten Denker der Gegenwart“
im Festsaal der Wiener Universität hielt (...)
INTERNATIONAL
FEDERATION OF PHILOSOPHICAL SOCIETIES
World Congresses of
Philosophy / Congrès mondiaux de philosophie
Weltkongresse der Philosophie
/ Congresos Mundiales de Filosofia
Number
|
|
Year |
Number
|
|
Year | |
I
|
|
1900
|
XI
|
|
1953
|
|
II
|
|
1904
|
XII
|
|
1958
|
|
III
|
|
1908
|
XIII
|
|
1963
|
|
IV
|
|
1919
|
XIV
|
Vienna |
1968
|
|
V
|
|
1924
|
XV
|
|
1973
|
|
VI
|
|
1926
|
XVI
|
|
1978
|
|
VII
|
|
1930
|
XVII
|
|
1983
|
|
VIII
|
|
1934
|
XVIII
|
|
1988
|
|
IX
|
|
1937
|
XIX
|
|
1993
|
|
X
|
|
1948
|
XX
|
|
1998
|
|
XXI
|
|
2003
|