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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG;
28. September 1968
Gerd Hergen Lübben
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Für einen redenden Gott
Thomas Müntzer: „Schriften und Briefe“

Im Land des „heiligen kempers“ Jan Hus, der bereits hundert Jahre zuvor die Verderbnis der Kirche angeprangert hatte und für seine Ideen als Erzketzer verbrannt worden war; in Böhmen, wo die Hussiten nach und nach von der katholischen Gegenreformation niedergeworfen und wo selbst die Reste der radikalen „Taboriten“, die „böhmischen“ und „mährischen“ Brüder, schließlich zur Verleugnung oder doch Geheimhaltung ihres Glaubens gezwungen worden waren; hier, in diesem geprüften Land, erhoffte sich Müntzer die entscheidende Resonanz auf seine enthusiasmierende Theologie, die sich sowohl gegen die „reichen hansen“ als auch wider die „vormaledeygten pfaffen“ richtete. Im November 1521 schlug er, der sich von „Gott selber gemietet“ wähnte, in Prag seinen beschwörenden Aufruf an „meyne allerliebsten Behemen“ an, in deutscher, lateinischer und in tschechischer Sprache, jene „Der Bemen sache betreffende protestation“.

Von den vier überlieferten Fassungen dieses „Prager Manifests“ (es gibt eine kürzere und eine längere deutsche) glaubte der Herausgeber der „kritischen Gesamtausgabe“ der Schriften und Briefe von Thomas Müntzer, G. Franz, auf einen Neuabdruck der tschechischen „verzichten zu können, da es sich hier zweifellos nur (!) um eine Übersetzung handelt, die nicht von Müntzer stammt und keinen Eigenwert (!) hat“. – Müntzer war es darum gegangen, alle Schichten seiner Prager Zuhörerschaft anzusprechen. Um mit seiner Predigt das Volk, von dem nach Müntzers Überzeugung „dye newe apostolische kirche“ ausgehen werde und das „eyn spygel der gantzen weldt seyn“ sollte, zu erreichen, hatte er sich eines Dolmetschers bedienen müssen. Einer Müntzer-Gesamtausgabe hätte, aus auf der Hand liegenden komparatistischen Gründen, die Wiedergabe der böhmischen Version des Prager Anschlags wohl angestanden.

Die tschechische Fassung des „Manifests“ befindet sich übrigens derzeit in der Handschriftenabteilung der Moskauer Lenin-Bibliothek. Das Dokument gehört zu jenem Aktenstück Loc. 10327 aus dem Dresdner Landeshauptarchiv, das im Dezember 1949 von der damaligen sächsischen Regierung Stalin zu seinem siebzigsten Geburtstag geschenkt wurde: „Alle Briefe und Zettel, welche zum Theil Thomas Müntzer, zum Theil andere an Ihn geschrieben.“ Eine Faksimileausgabe dieses Aktenstücks, die weder im Buchhandel erschienen noch in Bibliotheken greifbar ist, wurde dem Herausgeber vom Kulturministerium der „DDR“ zur Verfügung gestellt.

Der Dresdner Nachlassfaszikel überliefert den größten Teil von Müntzers Briefwechsel (die Briefe an ihn im Original, die von ihm im Entwurf),  zahlreiche Notizzettel, Predigtkonzepte und als umfangreichstes Stück das „Officium St. Cyriaci“. Diese  erste  liturgische Schrift Müntzers liegt nunmehr erstmals gedruckt vor. Es handelt sich hierbei um eine von Müntzer nach dem Gedächtnis hergestellte Niederschrift der ihm bekannten und auf  weitere Ergänzung berechneten (lateinischen) Texte für die Feier des Cyriacustages, wie er sie kennengelernt hatte, als er im Nonnenkloster Frose als Beichtvater tätig war. Sieben Jahre danach, 1524, schrieb Müntzer in der Vorrede zu seiner „Deutsch-evangelischen Messe“, es sei „nicht lenger“ zu „leiden, das man den Lateinischen worten wil eine kraft zuschreiben, wie die zaubrer thun“; „uff das die menschen mügen christförmig werden“, sollten die Priester „das testament Christi offenbar handeln und deutsch singen und erkleren“.

Noch vor Luther brachte Müntzer die Messe ganz in deutscher Sprache dar, wobei jeweils ein vollständiges Kapitel aus der Bibel verlesen wurde. Mit geringen Veränderungen übernahm er Luthers Verdeutschung des Neuen Testaments. Müntzers Übersetzungen von Psalmen und lateinischen Hymnen zeugen von sprachschöpferischer Kraft. „Dye fursten haben mich on orsach vorfolgt“, beginnt seine (im Nachlass erhaltene) Übersetzung von Psalm 119: „O Herr, ... Mein zung wirt predigen deyne rede.“

Thomas Müntzer wollte .,keynen stümmen, sunder eynen redenden Got anbethen“. Er predigte und schrieb als „eyn knecht Gottes wider dye gottloßen“, als ein „ernster“ Gottesknecht „mit dem schwerthe Gydeonis“. Müntzers (aus Predigten, politischen Schriften und Briefen sprechendes) ausgeprägtes Sendungsbewusstsein trug ihm die erbitterte Gegnerschaft Luthers ein. War es diesem mehr um eine innerkirchliche Glaubenserneuerung zu tun, so schwebte Müntzer eine grundsätzliehe „voranderung der weldt“ vor, Revolution statt Reformation. Katholiken wie. je Lutherische verketzerten ihn zum „falschen Propheten“. Von Marxisten (bis Bloch) dagegen ist er als veritabler Prophet respektiert worden: Sie berufen sich gern auf sein „theoretisches Arsenal“ (Engels). Marx selbst hat sich die Große Proletarische Revolution als eine erweiterte, „zweite Ausgabe des Bauernkrieges“ vorgestellt.

Sicher aber war Müntzer weniger der aufständische Bauernführer als vielmehr der aufrüttelnde Prediger, der von der Wirkmächtigkeit des Geistes der Wahrheit überzeugt war und der daran glaubte, dass Gott auch „in kegenwertiger zeyt“ zu den Menschen spricht, vornehmlich zu den armen und unterdrückten. Dieser Glaube zeitigte letztlich sein unerhörtes, unzeitgemäßes Drängen: „Nuhn dran, dran, dran, es ist zeyt ... Gott gehet euch vor, volget, volget!“

Nach der Frankenhausener Niederlage der Bauern wurde Müntzer als Aufständischer geköpft, und sein Kopf gespießt. Zu Reue und Widerruf hatte man den Prediger durch keine Folter bewegen können. Der in die Gesamtausgabe aufgenommene „Widerruf“ scheint eine zeitgenössische Fälschung zu sein. – Obwohl die Randbernerkungen Müntzers in seinen Büchern (Opera Tertulliani, Opera Cypriani) nicht vollständig wiedergegeben – ohne die zugehörigen Texte erscheinen sie zumeist unverständlich – und obwohl die Werke „nicht buchstabengetreu“, sondern mit „vorsichtig modernisierter“ Orthographie abgedruckt sind, muss die von G. Franz vorgelegte, seit langem fällige Gesamtausgabe von Müntzers Schrifttum als ein wissenschaftlich hochrangiger Beitrag zur reformationsgeschichtlichen Forschung (auch trotz des bedauerlichen Fehlens der tschechischen Fassung des „Prager Manifests“) begrüßt werden.

GERD HERGEN LÜBBEN
Thomas Müntzer: „Schriften und Briefe“. Kritische Gesamtausgabe. Unter Mitarbeit von Paul Kirn, herausgegeben von Günther Franz. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte. Herausgegeben vom Verein für Reformationsgeschichte. Band 33.) Gerd Mohn, Gütersloh 1968. 591 S., Ln., 96.--DM.

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