THARANDT, TARANTO, TARANTELLA — »KLEIST«-EMPHASEN
Von Gerd Hergen LübbenWie sich in des Tragikers KLEIST so verblüffend inbrünstiger Wunderlegende „Die heilige Cäcilie oder die Macht der Musik“ der „ganze Schrecken der Tonkunst“ darstellte: Welch „Extremismus der Sprache“, „Überklang ins Unendliche“, „geisterhafte Musik“! Hatte nicht auch schon der bewunderte SCHILLER „mit wollustvollem Grausen“ die geheimnisvolle „Macht des Gesanges“ wahrgenommen, die — gleichsam als „Fremdling aus der andern Welt“ — nach „Geisterweise“ in die „Kreise der Freude“ tritt? „Der Töne ganze Macht“ dichtete KLEIST, „nach dem Griechischen“, dem „letzten Lied“ an, das „voll unnennbarer Wonnen“ einst nur als ein schöner Schatten „in unsre Tänze niedersteigen“ werde. „Ich wollte,“ schrieb er andererseits — sich wohl bewusst, dass „die Gedanken und die Empfindungen verhallen wie ein Flötenton im Orkane“: „Ich wollte, ich hätte eine Stimme von Erz“; wie die Normannen in seiner „Guiskard“-Tragödie ihrem Sprecher eine Stimme „gleich einem erznen Sprachrohr“ wünschen! Und wie nah doch, geplagt von schwerer Zunge, wähnte er sich oftmals dem Versagen, dem Verstummen. Er, KLEIST, Sänger aus innerstem Gewahrsam: „Ich, ein Gefangener?“ Versunken in der „Urne des Schicksals“, entladen aus der „Kleistschen Flasche“? — Die Sprache ist „keine Fessel“; l’idée vient en parlant. — »KLEISTOS«!
Ei freilich, einen auf dem Schlachtfeld Versprengten, heftiger Pfeifenraucher wie er selbst, lässt KLEIST „Adies!“ rufen, „Bassa Teremtetem!“ und „hoho! hoho! hoho!“ und, „vom Satan besessen“, indem er sich angesichts einer ihm hingehaltenen Flasche Schnaps „den Schweiß von der Stirn abtrocknet“, noch: „Wo soll ich mit dem Quark hin? [...] schenk er ein! [...] denn ich habe keine Zeit!“
Der Name KLEIST wäre ohne den einen kolossalen Akt seines Dramas „Robert Guiskard“ ein „Quark“, notierte Thomas MANN, dem Heinrich von KLEIST als einer der größten und kühnsten Dichter deutscher Sprache galt, als ein „Dramatiker sondergleichen, — überhaupt sondergleichen, auch als Prosaist, als Erzähler, — völlig einmalig, aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend, radikal in der Hingabe an seine exzentrischen Stoffe bis zur Tollheit“. Stefan ZWEIG gewahrte gar, nur Musik sei sonst so „vulkanisch“ entstanden wie „Kleistens“ Dichtungen, die so „aufreizend an die Nerven: wie »Tristan«-Musik“ rühren. In der „Cäcilie“-Legende werden durch die Kraft der Orgel, durch „Geigen, Hoboen und Bässe“ vier Gott- und Musikgeschlagene getrieben, bis zur Schweiß-triefenden Erschöpfung — und stets wieder bis zu solch letzter Erschöpfung — mit Stimmen, die nichts Menschliches mehr haben, das Gloria-in-excelsis zu brüllen, unerträglich und empörend, so dass die neugierige Zuhörerschaft gesträubten Haars auseinander stiebt.
Auf der Bühne hat der eigentlich erst im 20. Jahrhundert entdeckte Autor Heinrich von KLEIST von seinen „dramatischen Arbeiten“ — die er gegenüber anderen Schriftstellern als „Tragödien“ ankündigte („wie ich mich damit gequält habe“) und unter denen beispielsweise „Der zerbrochene Krug“ in Weimar (1808) durch J. W. v. GOETHE höchstpersönlich, allerdings mitnichten kongenial, und „Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe“ am Bamberger Theater (1811), versehen übrigens mit einem Bühnenbild von dem künstlerischen Multitalent E. T. A. HOFFMANN, in Szene gesetzt oder gar, im selbigen Jahr, einige Auftritte aus der „Penthesilea“ im Konzertsaal des Berliner Nationaltheaters pantomimisch dargestellt, die meisten aber, darunter „Prinz Friedrich von Homburg“ unter dem Titel „Die Schlacht bey Fehrbellin“ (1821, Wiener Burgtheater), „Die Hermannsschlacht“ (1860, Stadttheater Breslau), „Penthesilea“ (1876, Königliches Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, Berlin), „Amphitryon“ (1899, Neues Theater, Berlin) und das legendäre „Fragment aus dem Trauerspiel: Robert Guiskard, Herzog der Normänner“ (1901, Berliner Theater), erst nach seinem Tod uraufgeführt worden waren — Zeit seiner vierunddreißig Lebensjahre kein einziges selbst gesehen. Gleichviel; einmal ruhelos durch „Kaffeehäuser und Tabagien“ getrieben, andere Male spasmisch über veritable Kriegs-Schauplätze tappend, dann, als Spion verdächtigt, sang- und klanglos in Gewahrsam genommen, dann wieder in Postkutschen kreuz und quer unterwegs, „das Rütteln des Wagens“ genießend, staunt er, wenn „immer rechts und links die Erscheinungen wechseln“, die Landschaft-Fluchten „wie Bilder auf dem Tuche bei dem Guckkasten“ an, rasante „Naturszenen“ der „Meisterstücke“ des Weltenschöpfers, dessen „große Komposition“ aufzuführen die Kreatur ihre „Rohrpfeife“ zum „Choral der Hoboisten“ einstimmt, bemerkt Wesen, die, verzückt im „Tumult freudiger Empfindungen“, über Tanzplätze „der Musik in ein unbekanntes Land“ zu folgen scheinen, schaut großartiges „Amphitheater“, wo ein Fluss von Bergterrassen umgeben ist und am Himmelsgewölbe die Sonne als „Kronleuchter“ oder „Girandole“ erstrahlt.Und in Würzburg, fast betäubt noch von den ihn allerwege anmutenden „allegorischen Stücken“, ließ KLEIST sich das „anatomische Theater“ eines Hospitals zeigen.
HOFFMANN, der quirlige Advokat und Maler, phantastische Poet und Komponist, hatte also zwar für ein KLEIST-Stück — nach Aussage seines Intendanten — „mit Aufopferung, Lust und Liebe“ die „Decorationen“ geschaffen; keines allerdings verwendete er als Textvorlage für ein „Singspiel“, wozu ihm die „Lustigen Musikanten“ eines Clemens BRENTANO eher geeignet schienen. KLEIST, der unaufhaltsam aus dem „Mobil aller seiner Gedanken, Empfindungen und Handlungen“ Sprachkunstwerke voller „Melodie, Harmonie, Klang, kurz [...] Sphärenmusik“zu gestalten strebte, sei „unkomponierbar“, schmähte hernach noch Richard STRAUSS. Mittlerweile sind allerdings mehr als zwei Dutzend Vertonungen von KLEIST-Werken zu zählen, darunter Bühnenmusiken zu sowie Symphonische Dichtungen und Opern nach „Käthchen von Heilbronn“ (u.a. von H. PFITZNER), „Der zerbrochene Krug“ (u.a., unter dem Titel „Starosta“, von A. LVOFF), „Amphithrion“ (u.a., unter dem Titel „Alkmene“, von G. KLEBE), „Michael Kohlhaas“ (von P. v. KLENAU), „Die Marquise von O.“ (unter dem Titel „Julietta“ von H. ERBSE), „Die Verlobung in St. Domingo“ (u.a. von W. EGK), „Penthesilea“ (u.a. von H. WOLF, O. SCHOECK), „Die Hermannsschlacht“ (u.a. von W. KEMPFF), „Prinz Fiedrich von Homburg“ (u.a. von H. W. HENZE nach einem Libretto von I. BACHMANN). Eine Auftragsmusik zu den KLEIST-Festtagen in Frankfurt/Oder 1994 titelte: „Heinrichs Fieber — eine Kleistvision“.
Neuere Sprachforschung leitet übrigens das Wort „Tragödie“ aus einer hethitischen Wurzel des semantischen Gehaltes „Tanz“ ab, speziell in der Bedeutung des orgiastischen Tanzes. Insbesondere wenn man den HERODOT-Berichten folgt, haben die beiden altgriechischen Politiker namens KLEISTHENES — sowohl der antiaristokratische Olympionike und Tyrann von Sikyon, Befreier des Orakels zu Delphi und Erneuerer der Pythischen Spiele, als auch dessen antityrannischer Enkel, der Ostrakismos- und Demokratiebegründer von Athen — mit diversen Kultus-Reformen wesentlich zur Entwicklung der Tragödie aus dem chorisch-orgiastischen Tanz samt der ihn emphatisch begleitenden Gesänge und Doppelrohrblattpfeifen beigetragen. Plötzlich waren — gewiss nicht nur, weil Homers Helden vornehmlich „feindlichen“ Nachbarstaaten entstammten — die episch-langatmigen Vorträge der Wander-Rhapsoden verpönt, da zu Dionysos Ehren dithyrambisch geswingt, auf Tischen Schweiß-treibend gehüftelt und gar in übermütigem Kopfstand mit den Füßen ekstatisch gestikuliert wurde. Dem passionierten Klarinettenspieler KLEIST, zeitweise mit Freunden in einer „Musikbande“ zum Tanz aufspielend und über die Dörfer tingelnd, klang wohl stets so etwas wie Auloi-Schall im Ohr: „Du allein singst nur einen Ton, ich allein singe auch nur einen Ton;“ sinnierte KLEIST, und „wenn wir einen Akkord hören wollen, so müssen wir beide zusammen singen.“
Immerhin, alle Kunst schien für KLEIST aus einer dunklen Empfänglichkeit für das Musikalische zu wachsen: Die Musik betrachtete er als die Wurzel aller übrigen Künste, wobei er „im Generalbass die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst“ annahm. Gehen wir davon aus, dass „Generalbass“, als Basso continuo, eben „Bass“ bedeutet wie auch, als Generalbass-“Schrift“, die Bass-Akkorde beschreibt, dabei aber das Spiel des Akkompagnisten nicht festschreibt, sondern sogar dessen freie Improvisation verlangt, dann kommen wir, wohl keineswegs zufällig, darauf, wie sich in KLEISTs berühmtem Essay „Über das Marionettentheater“ das Marionetten-Symbol aus dem herkömmlichen Sinnbild der Unfreiheit und Abhängigkeit des Ich in das just entgegengesetzte einer unbewussten Freiheit und Grazie wandelt: Göttliche Schönheit scheint erst dort zerstörbar, wo das Begreifen des Verstandes beginnt und das Bewusstsein die Dissonanzen schafft. So mutiert beispielsweise in KLEISTs musiktheoretischem Experiment der „Cäcilie“-Erzählung die „Partitur“, die nur die Niederschrift von Musik ist und nur dem sehr geschulten und musikalisch gebildeten Leser die Reize der Musik erschließt, zu einer Ansammlung zauberischer Zeichen, welche die Mutter der erwähnten Geschlagenen ähnlich stark verwirren wie diese der Klang der Musik. Der Untertitel „Eine Legende“ ließe sich außer als Text — im Wortsinne nämlich, legenda = zu lesendes — demnach durchaus auch als Vortragsbezeichnung einer Komposition interpretieren, einer Komposition, die eben, quasi parlando, vorzulesen ist — wie andere gestrichen, gezupft oder geschlagen werden.
Immanuel KANT, mit dessen Philosophie sich KLEIST bis hin zu einer seiner Lebenskrisen auseinander setzte, hatte die Wirkung der Musik als Kunst durch das „schöne Spiel von Empfindungen“ des Gehörs hervor gehoben, das als solches ein „Wohlgefallen an der Form in der ästhetischen Beurteilung bei sich führe“. KANT konnte ja geradezu artistisch mit begrifflichen Spielbällen wie „Schnelligkeit der Luftbebungen“, „Wirkung dieser Zitterungen“, „Proportion der Zeiteinteilung“ und „das Mathematische, welches sich über die Proportion dieser Schwingungen in der Musik und ihre Beurteilung sagen lässt“, jonglieren. KLEISts Beschreibung der von Musik verrückt gewordenen Vier in seinem „Cäcilie“-Text erweckt den Eindruck einer Illustration des von KANT in seinem ergötzlichen Aufsatz „Das Ende aller Dinge“ — unter Anspielung auf die „Apokalypse des Johannes“ — nur Skizzierten, worin es heißt: „Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewusst werden kann, muss ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einen solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muss; Denken aber ein Reflektieren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann. — Die Bewohner der andern Welt werden daher so vorgestellt, wie sie, nach Verschiedenheit ihres Wohnorts (dem Himmel oder der Hölle), entweder immer dasselbe Lied, ihr Halleluja, oder ewig eben dieselben Jammertöne anstimmen“.
Nicht nur die von C. M. WIELAND — hingerissen vom KLEISTschen musikalisch-deklamatorischen Stil — zitierten „Geister des Äschylos, Sophokles und Shakespeare“ animierten oder provozierten und forcierten KLEISTs Schaffen, vielmehr auch zeitgenössische Publikationen wie G. E. LESSINGs von dessen jüngerem Bruder herausgegebener „Theatralischer Nachlass“, F. G. KLOPSTOCKs „Bardiet für die Schaubühne: Hermanns Schlacht“, I. KANTs philosophische und anthropologische Schriften, ein in F. SCHILLERs Zeitschrift „Die Horen“ erschienener Bericht über „Robert Guiscard. Herzog von Apulien und Calabrien“, der zu seinen Eroberungskriegen „Galeeren und flache Küstenfahrzeuge“ im „Meerbusen von Tarent“ versammelte. Wenn dieser normannische Herzog, die exemplarisch tragische Hauptfigur KLEISTs, — „Verderben, wütendem, entgegenkämpfend“ — „drei schweißerfüllte Nächte“ zugebracht haben soll, und wenn die vom Tremendum der Musik erschütterten Brüder sich „mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, der ihnen, in großen Tropfen, auf Kinn und Brust niederträuft“, abwischen, dann mag dem mit KANT Bewanderten überdies dessen Passage über die apulische Tarantel einfallen: Wer von ihr gebissen werde, müsse „bald weinen, bald lachen, bald tanzen, bald traurig sein“, und sei heilbar nur „durch die Musik, vornehmlich auf der Cither, Hautbois, Trompete und Violine, wodurch er vornehmlich, wenn man den echten Ton und die passende Melodie trifft, zum Tanzen, Schwitzen und endlich zur Gesundheit gebracht“ werde.
Ebenso der Ausruf in KLEISTs Drama „Die Hermannsschlacht“: „Ich glaub, beim Himmel, / Die römische Tarantel hat —? / Er wähnt ja auch, du Törin, du, / Dass wir den Wahn der Tat ihm danken! / Fort, Herzchen, fort!“Befeuern uns nicht heute noch Prospekte damit, dass, wenn es gnadenreich Frühling wird in Apulien, verheißungsvoll erste Fälle von Tarantismus gemeldet werden und die Besessenen ganze Tage und Nächte durchtanzen, hingegeben dem „Incanto e Scanto“, was soviel heißt wie Verzauberung und Entzauberung, vorgebend, von der Tarantel gebissen worden zu sein, und glückselig sich bewegend zum Vibrato der Schellen und Trommeln und Geigen, unter gellenden Schreien, sich therapierend, indem der Herzschlag der Tanzenden sich dem Rhythmus der Musik anpasst? „Pizzicata“ bezeichnet den Biss der Tarantel, welcher unbändige Zuckungen auslösen soll, und „Pizzica“ die Musik, zu der die Tarantella getanzt wird. Der vom Regisseur E. WINSPEARE zusammen mit der Münchner Filmemacherin und Schriftstellerin S. KREMSER gedrehte Film „San Paolo e la tarantola“, führte zu einer Wiederbelebung der Tarantella in ganz Italien, und Kopien des Films werden auf Dorf- und Kulturfesten verkauft. — „Gilt mein Guiskardswort nicht mehr? / Kein Leichtsinn ist's, wenn ich Berührung nicht / Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr, / Wenn's ungestraft geschieht.“ Wenn er „die Augen schloss“ und ihn linde Lüfte umwehten und Stromesrauschen umtönte, so äußerte sich KLEIST, konnte ihm gelegentlich „eine ganze vollständige Sinfonie“ erklingen, „die Melodie und alle begleitenden Akkorde, von der zärtlichen Flöte bis zu dem rauschenden Kontra-Violon“. KLEISTs briefliche, dichterische und journalistische Texte sind voller musikalischer Aus- und Anflüge. Gewitzt mutete ihn eine am Louvre feilgebotene „Mathematik in zwölf Gesängen“ an, anekdotisch „Bach, als seine Frau starb“, oder, nachrichtlich, „Haydns Tod“. Mit Aufmerksamkeit notierte er Innovationen in der Klavierspiel- und Klavierbaukunst, so die „von einem der scharfsinnigsten Mathematiker jetziger Zeit“ verbesserte „Einrichtung der Klaviatur der Tasteninstrumente“ wie eben auch, dass man für den alten HAYDN „ein eigenes Fortepiano, dessen Claven, vermittelst einer Vorrichtung, mit besonderer Leichtigkeit zu rühren waren,“ hatte bauen müssen. Und spätestens, seit C. BRENTANO gegenüber A. v. ARNIM nach KLEISTs Tötungen — seinem Mord an Henriette VOGEL, die ihn in den letzten Zeilen ihrer „Todeslitanei“ als „mein armer kranker Heinrich [...] mein Richter [...] mein Tod [...] meine Himmelspforte“ tituliert und mit „Süßtönender [...] meine innere Musik [...] Aeolsharfe [...] meine Stimme [...] Erzdichter [...] Sÿrings Flöte“ noch angehimmelt hatte, und seinem Selbstmord am 21. November 1811 — es mit Verwundern festhielt, konnte alle Welt auch erfahren haben, dass KLEIST, en passant, „einer der größten Virtuosen auf der Flöte und dem Klarinett“ war.
Wie, KLEIST spielte also die Klarinette, virtuos gar? Und hat mitgesungen in der ZELTERschen Liedertafel? Ja, diese hin und wieder bereits vernommenen Informationen setzen Bildungsbürgertum wie — philologische, musik- und theaterwissenschaftliche — Fachwelt stets gern erneut in Erstaunen. Namentlich die „Cäcilie“-Erzählung hat etliche Versuche gezeitigt, sich dem Themenkreis „Kleist und die Musik“ zu nähern, etwa im „Kleist-Archiv Sembdner“ der Stadt Heilbronn und in diversen Hochschul-Seminaren. Den Klarinettenspieler KLEIST haben u.a. Beiträge von I. KRIEGER („Magazin für Oboe, Klarinette, Fagott und Saxophon“ »'rohrblatt«, März 2000) und D. S. BOCK („Zeitschrift für Literatur“ »Schreibheft«, Mai 2000) ins Visier genommen. BOCK benennt dabei verschiedene zur Zeit KLEISTs, vielleicht ja von diesem selber musizierte Partituren für Klarinette — beispielsweise „Liedchen“ von J.-J. ROUSSEAU, „Variationen“ von W. A. MOZART, „Grenadiermarsch“ von L. van BEETHOVEN und ein „Adagio pastorale“ von A. C. CARTELLIERI — und erinnert daran: KLEIST „komponierte kleine Tänze“!
„Musik!“ — ruft Penthesilea — „Ich bin nicht ruhig. / Lasst den Gesang erschallen! Macht mich still!“ Ja — „Singt! Spielt!“ — Ja doch! Sprachmusik, Worttänze. Und — beim Zebattu, ich weiß es! — in den »Feuerfuß«-Emphasen für Bühne zeigt die Dodola zu „Logorhythmen“ ihre „Bewegtheit“:
spreiz und wirble die beine
tarantella
sieh nicht zeig dich schmieg dich
und flüstre dein susminervam
den säulen gonggong
tarabuka tamtam
spreiz und wirble die beine
tarantella
Womöglich taucht, wie sein bisher als unauffindbar geltendes „Roman“-Manuskript, sogar noch ein „Tarantella“-Notat von KLEIST auf? Was hatte er nicht alles — mit „Blick auf Deinen Tobaksbeutel, der immer an dem Knopfe meiner Weste hangt“ — seiner ehemaligen Verlobten und nachmaligen Gattin des Nachfolgers auf KANTs Königsberger Philosophie-Lehrstuhl anvertraut, namentlich als sie noch unter „Freudentränen“ und „am Fortepiano“ zu ihm gesprochen! Seine Schwester Ulrike fragte er: „Hast Du die Musik [...] erhalten?“ Kein Schlaf kam auf seine Augen: „Die Natur und meine brennende Pfeife erhielten mich wach“. Sein „Kaffeezeug“ und sein „Feuerzeug, Stahl und Stein“ und die Pfeife, „angeschmaucht“, hatte er allerorten mit, in Öderan und Tharandt, auf seinen Reisen und auf seinen Wanderungen über „Rebenhügel“, „heiße Schweißtropfen“ beim „Ersteigen der Weinberge“ vergießend. Ein „trunkener Dichter“, so wird KLEIST zugeschrieben, leert sein Glas mit dem bacchantischen Ausruf: „Zuviel kann man wohl trinken, / Aber nie genug!“ Dorfrichter Adam kennt die „Pythagorasregel“ des Einschenkens: „Drei ist der Herr; Zwei ist das finstre Chaos; / Im dritten ist die Welt. Drei Gläser lob ich mir. / Im dritten trinkt man mit den Tropfen Sonnen / Und Firmamente mit den übrigen.“Wohliges Tharandt im schroffen Felsental der Wilden Weißeritz! Wollüstiges Taranto am Mare Piccolo, geboren von der Nymphe Satyria und hingegeben den Bacchantinnen wie den Pythagoreern mit ihren sphärisch tanzenden Oktaven, Quinten, Quarten! Genug! Da sind noch die Figuren „mit Buckeln, mit Stelzen, ohne Hände und Füße“ aus der in G. E. LESSINGs Nachlass bewahrten Possen-Szene „Tarantula“ ins Spiel zu bringen. KLEISTs Briefe aus Würzburg stellen — „nicht ohne Rührung“ — unglückliche Wesen ohne das „Vermögen, die Zunge zur Rede zu bewegen,“ vor, mit „ausgedorrten Gliedern, mit eingesenkter Brust, kraftlos niederhangendem Haupte“. Lässt sich daran nicht, zumindest an LESSINGs „Tarantula“-Personage, leichthin KLEISTs „Marionettentheater“-Frage „Haben Sie von jenen mechanischen Beinen gehört, welche englische Künstler für Unglückliche verfertigen, die ihre Schenkel verloren haben?“ knüpfen, verbunden mit der Auskunft, „dass diese Unglücklichen damit tanzen [...] Was sag ich, tanzen? Der Kreis ihrer Bewegungen ist zwar beschränkt; doch diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen, vollziehen sich mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die jedes denkende Gemüt in Erstaunen setzen“? Auf thessalischen Festen tanzen Männer, in geschlossenem Kreis, den »KLEISTOS«-Reigen. Und beileibe — mich dünkt, KLEIST, unser pausbackiger Aulet, könnte — wie bei allem, „was die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten“ — auch bei all seinen Bühnen-Emphasen — gleichsam auf dem „Tanzplatz“, der „Orchestra“ des archaischen Theaters — den besagten Schall der „Tibia“, jenes unserer Oboe ähnlichen Doppelblattinstruments, mit im Sinn gehabt haben: „Denn wenn ich die Augen zu mache, so kann ich mir einbilden, was ich will.“
Von Gerd Hergen Lübben — DIE ZEIT: »der Poet« — sind u. a. erschienen:
FEUERFUSS MEINETWEGEN oder: DIE ZEBATTU-PENTADE.
Fünf Stücke • Emphasen für Bühne (1993)
und:
JAHR UM JAHR • LOGORHYTHMEN • VERLIES.
Gedichte (1998)